In Deutschland lebten 2017 laut dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 15,7% der Bevölkerung an der Armutsgrenze oder in Armut. Das wären knapp 13 Millionen Menschen. (Anmerkung: Es gibt durchaus Kritikpunkte an diesem Bericht und der Armutsdefinition, denn die Armutsgrenze liegt bei 50% des nationalen Medianeinkommens und ist nicht mit anderen weniger entwickelten Ländern zu vergleichen. Das bedeutet, dass es in Deutschland immer (!) Armut geben wird, egal wie hoch die Einkommen sind.)
Ca. 580.000 überschuldete Personen haben sich im Jahre 2019 Hilfe bei einer Schuldner- oder Insolvenzberatungsstelle gesucht. Bei 35% der überschuldeten Personen, lebte ein minderjähriges Kind mit im Haushalt (Quelle).
Die Gründe warum Menschen in Armut geraten sind dabei vielfältig. Die häufigsten Gründe sind Jobverlust, Scheidung, Alleinerziehung, fehlende Ausbildung. Aber auch plötzliche gesundheitliche Probleme können eine Armutsfalle darstellen.
Die gängige Meinung in der Gesellschaft ist, dass Armut in der Regel selbst verschuldet ist. Laut einer Befragung der Joseph Rowntree Foundation gaben 69% an, dass Menschen genug Möglichkeiten hätten, um voranzukommen. Entscheidend sei die innere Motivation (Bamfield L et al.; Understanding Attitudes to Taklung Economic Inequality, 2009).
Aber ist das wirklich so einfach? Das arme Menschen einfach nur zu faul sind, um aus ihrer misslichen Lage wieder herauszufinden? Stecken womöglich noch andere Mechanismen dahinter?
Armut als Gedankenfalle
Ein vorherrschender Mangel beeinflusst stark unser Denken. Wir geraten unter Druck. Wir fangen dann an kurzfristig zu denken und verlieren das große Ganze aus den Augen.
Auch führt ein Mangel an Geld zu einem Tunnelblick, sodass andere Optionen gar nicht mehr gesehen werden. Wichtig scheint in dieser Situation nur zu sein, so schnell wie möglich an Geld zu kommen, um die nächste Rechnung oder Reparatur zu bezahlen. Dabei werden oft die langfristigen Folgen außer Acht gelassen.
Ärmere Menschen haben Angst vor Schulden. Wenn sie denn Geld zur Überbrückung brauchen, dann wollen sie meist auch nur kurzfristige Kredite aufnehmen. Allerdings bekommen diese Menschen aufgrund der unsicheren Finanzlage nur ungünstige Konditionen mit höheren Zinsen. Diese Konstellation ist natürlich explosiv und treibt die Schuldenspirale nur noch schneller voran.
Mangeldenken
Wenn wir negativen Druck haben, ist das Risiko höher, dass wir falsche Entscheidungen treffen. Wenn wir uns negativen Druck machen, dann gelingt uns auch weniger. Auch zu dieser Thematik gibt es Versuchsreihen, in denen Probanden vergleichsweise schlechter abgeschnitten haben, nachdem ihnen gesagt wurde, dass andere sie für einen Versager halten.
Fatal ist es, wenn Kinder dies im Elternhaus oder in der Schule erfahren müssen. Wenn Eltern eine destruktive Erziehung weitervermitteln und ihren Kindern immer wieder sagen, was sie nicht können oder das sie schlicht Versager sind, übernehmen die Kinder genau diese Gedanken. Dann werden diese Kinder auch schlechtere Leistungen abliefern, weil ihre Gedanken sie hemmen. In der Schule können es Lehrer sein, die von vornherein meinen, dass Kinder aus ärmeren Familien gleichzeitig schlechter in der Schule sind. Wie eine selbsterfüllende Prophezeiung wird das auch eintreten. Die Kinder halten sich irgendwann selbst für Versager. Dabei ist Wertschätzung so wichtig, um gut voranzukommen!
Wer sich für einen Versager hält, ruft nicht die Leistung und das Können ab, wozu er eigentlich fähig wäre. Das bedeutet weniger Kreativität, weniger lösungsorientiertes Denken, weniger Softskills. Das führt im Endeffekt wiederum zu weniger Einkommen.
Diese Voraussetzungen können später dazu führen, dass Kinder aus ärmeren Familien später weiterhin in Armut leben.
Geldsorgen haben kognitive Auswirkungen
Ab dem Moment, wo Menschen aufgrund von Geldmangel unter Stress stehen, dreht sich alles nur noch ums Geld. Alle anderen scheinbar unwichtigen Dinge werden ausgeblendet.
Wie sehr sich Geldsorgen sogar auf den IQ auswirken können, haben Mani und Kollegen in einer indischen Studie gezeigt. Dabei wurde indischen Bauern kurz vor der Ernte und nach einer erfolgreichen Ernte ein IQ-Test vorgelegt. Interessant zu wissen ist, dass die Bauern kurz vor der Ernte ihren Lebensunterhalt über Kredite finanzieren, weil die eigenen Mittel aufgebraucht sind. Nach der Ernte ist wieder genug Geld da und der finanzielle Stress ist weg. Es hat sich gezeigt, dass der IQ fast 10 Punkte niedriger ist der finanziell angespannten Phase.
Jetzt gibt es zu dieser Studie natürlich auch Kritikpunkte. Einer der Hauptkritikpunkte ist, dass Menschen in einer engen finanziellen Situation sich auf notwendige Dinge konzentrieren und möglicherweise gerade den IQ-Test als irrelevant ansehen und deswegen schlechter abschneiden. Allerdings sind wir bei diesem Kritikpunkt wieder beim Argument „Tunnelblick“ angelangt, welcher unter Geldmangel entsteht…
Armut wird weitergegeben
In armen Familien herrscht oft Stress aufgrund des Geldmangels. Diesen Stress kann im Blut gemessen werden – als Cortisolspiegel. Cortisol wird vom Körper dann sinnvoll ausgeschüttet, wenn wir in eine Notsituation geraten und z.B. schnell rennen müssen. Aber langfristig ist ein dauerhaft erhöhter Cortisolspiegel nicht gesund. Genau diese erhöhten Cortisolwerte finden sich bereits bei Kleinkindern in armen Familien! Was bedeutet, dass bereits Kleinkinder den chronischen Stress der Erwachsenen adaptieren. Warum das so ist, hat sicherlich unterschiedliche Gründe.
Wenn die Eltern unter dem Geldmangel leiden und eine chronische Stresssituation erleben, verlieren sie oft den Blick für die Bedürfnisse ihrer Kinder. Gemeinsames Spielen, Kuscheln, Unternehmungen werden einfach sehr viel weniger, weil die Erwachsenen um sich selbst kreisen.
Auch werden in der Freizeit der Kinder weniger Angebote wahrgenommen wie Sportvereine oder Musikschule – einfach weil es zu viel kostet. Die Kinder trauen sich oft auch nicht z.B. nach Musikunterricht zu fragen, weil sie wissen, dass dafür das Geld nicht reicht.
Wenn eine prekäre Lage anhält, kann sich bei Erwachsenen auch Hoffnungslosigkeit verbreiten, dass es sich ja nicht lohnen würde sich anzustrengen. Diese Einstellung kann sich im späteren Alter auch leicht auf die Kinder übertragen, die sich dann weniger in der Schule anstrengen und selbst in die Armut abrutschen.
Lösungsansätze
Auch wenn es „nur“ eine relative Armut ist, sollte dennoch ein gesellschaftliches Augenmerk auf das Problem gelegt werden. „Denn Armut grenzt aus, macht klein und verschlechtert die Chancen gut ins Leben zu starten.“ (Zitat Dr. K. Barley). Armut in Deutschland ist ein komplexes Thema und die folgenden Lösungsansätze sind mit Sicherheit nicht vollständig.
Für Familien in akuter finanzieller Not, braucht es sicherlich externe Unterstützung (Caritas, Diakonie, Arbeiterwohlfahrt, gewerbliche oder anwaltliche Schuldnerberatung), da durch den Tunnelblick des Geldmangels die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass die Betroffenen falsche Finanzentscheidungen treffen.
Ausreichend bezahlte Jobs. Hier möchte ich auch auf die Pflegeberufe hinweisen, die in während der Coronakrise beklatscht wurden und als systemrelevant erkannt wurden, aber weiterhin vergleichsweise mies bezahlt werden. Vor allem wenn der Krankenpfleger bzw. die Krankenschwester alleinerziehend ist, wird es finanziell eng!
Ein weiterer Punkt ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, insbesondere bei Alleinerziehenden. Es bringt nichts, wenn die Kita nur von 8-12 Uhr offen hat oder die Grundschule keine weitere Betreuung nach der Unterrichtszeit anbietet. Gut erreichbare und gut gemachte Bildungs- und Betreuungsangebote können wegweisend für Kinder und Jugendliche sein.
Finanzielle Bildung bereits in der Schule! Es bringt nichts verrückte Gedichtsanalysen hinzaubern zu können und nach der Schule von irgendwelchen Finanz-Drückerkolonnen über den Tisch gezogen zu werden. Finanzielle Bildung fehlt im Stundenplan und muss dringend geändert werden. Davon könnten auch sicherlich Eltern generell profitieren.
Respektvoller Umgang mit den Kindern. Positive Bestärkung und Aufmerksamkeit seinen Kindern schenken. Auch in der Schule Kindern aus benachteiligten Familien fair gegenübertreten und verstärkt fördern.
Fazit zur Armut
Die Haltung „Jeder ist seines Glückes Schmied.“ kann in der Armutsdiskussion nach hinten losgehen. Denn bei bestehender finanzieller Not kann leicht ein Teufelskreis entstehen, der die Geldnöte noch größer werden lassen kann. Vor allem sollten wir auch die Kinder aus ärmeren Familien unterstützen, damit der generationsübergreifende Teufelskreis unterbrochen wird und sich ein finanziell robustes Mindset aufbauen kann.
Quelle und Inspiration zu diesem Artikel war das tolle Buch Erst Denken, dann zahlen!* von Claudia Hammond.
Die Rezensionen zu weiteren richtig guten Finanzbüchern:
Über die Psychologie des Geldes von Morgan Housel
Was denkst du über das Thema Armut?
In diesem Sinne: maximale Bildung.
Anna
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Liebe Anna,
das Thema finanzielle Bildung ist leider immer noch viel zu unbeachtet. Dabei würde es tatsächlich viel bewirken und auch ich hätte es bevorzugt, nach der Schule meine Steuererklärung machen zu können statt die dreifache Wurzel aus dem vierten Integral zu ziehen. Und wie du schreibst, machen wir es uns ziemlich einfach, wenn wir so Sachen wie „jeder ist seines Glückes Schmied“ sagen. Gerade die voreingenommene Erwartungshaltung, dass ein Kind etwas nicht könne, kann viel kaputt machen.
Leider trauen sich viele nicht, Änderungen aktiv anzugehen. Sieht man ja auch an der Bezahlung von systemrelevanten Berufsgruppen. Am Ende geht es nur um Wählerstimmen und da viele Angst um ihren eigenen Wohlstand haben, wird eben bekanntes, sicheres gewählt. Ich wünsche mir mehr Mut für unsere Gesellschaft, diese wichtigen Themen wirklich mal anzugehen und etwas zu verändern.
VG
Vanessa
Sehr wertvoller Artikel, vielen Dank dafür. Die Dinge haben eben oft zwei Seiten. Hat mich zum Nachdenken angeregt.
Nur ein kleiner Punkt: Die Aussage, dass es nach der gegebenen relativen Armutsdefinition immer Arme geben würde, ist, denke ich, nicht korrekt. Einfaches Gegenbeispiel: Gesellschaft aus drei Leuten. Einkommen: 100 €, 10 €, 1 €. Mittleres Gehalt (55,5 €) als Referenz -> zwei Arme. Mediangehalt (10 €) als Referenz -> ein(e) Arme(r). Bei Einkommen 100 €, 10 € und 8 € und Medianeinkommen als Referenz keine Armut. Interessanterweise kann mit dieser Definition das Risiko für relative Armut allerdings sinken, wenn es einen großen Niedriglohnsektor gibt, da dann auch das Medianeinkommen entsprechend sinkt. Das ist in der Tat bizarr.